Von Ohrwürmern und Hochsensiblen
Der klassische Ohrwurm - wer hat noch keine Bekanntschaft mit ihm gemacht? Mir persönlich ist er wohl vertraut. Ich höre ein Lied, das mich besonders anrührt. Automatisch singe oder summe ich mit. Sitze ich gerade nicht im Auto, schwinge ich auch mal das Tanzbein dazu. Die letzten Töne verklingen – äußerlich. Doch in mir singt und spielt es weiter. Die Melodie weicht nicht aus meinen Kopf. Sie begleitet mich für den Rest des Tages oder länger.
Ähnlich erlebe ich es als hochsensible Person mit all den Eindrücken, die täglich auf mich einströmen: Das letzte HSP-Treffen, ein Traum, der mich in der Nacht begleitete, ein Kurztrip mit meinen Kindern, das Elterngespräch, das ich als Lehrerin mit einer besorgten Mutter führte… All das klingt in mir nach. All das will durchdacht und durchfühlt werden, auch, wenn das Ereignis bereits der Vergangenheit angehört. Oft höre ich auch das Echo einzelner Sätze oder Worte meines Gegenübers. Was könnte er/sie damit gemeint haben? Ich erinnere mich an die Zwischentöne, die so viel lautere nonverbale Körpersprache. Stimmt sie mit dem Gesagten überein? Welche Botschaften stecken dahinter? Ich möchte mit dem Herzen verstehen. "Manchmal werden die Gedanken-Tropfen auch mit dem Wind umhergeweht. Sie bringen mich durcheinander... Nicht immer ist es gut, die Gedankenströme fließen zu lassen."* Nicht selten verliere ich mich im Gedankenstrudel, dem s.g. „Overthinking“. Das muss sich das "aufgewühlte Wasser" erst setzen und klären.
Lieber doch "normal" sein?
Sehnsüchtig blicke ich dann auf neurotypische Menschen: Sie haben es scheinbar leichter und die Fähigkeit, ohne großartige Pausen von einem Treffen zum nächsten zu „springen“. Auch schwierige und emotionale Gespräche haken sie schneller ab, nehmen es nicht allzu persönlich und gehen zügig zur Tagesordnung über. Natürlich kann ich auch als hochsensibler Mensch meine Gedanken bewusst steuern. Meinen Emotionen bin ich nicht hilflos ausgeliefert. Doch versuche ich mich so, wie die meisten Menschen zu verhalten, endet das spätestens nach drei bis vier Tagen in einem Chaos- und Erschöpfungszustand. Mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass Hochsensible anders „funktionieren“ und dieses Anderssein sogar als Stärke nutzen können.
Ordnung im Aktenschrank der Seele
Eine, meiner hochsensiblen Freundinnen gebrauchte für diesen inneren Zustand das Bild eines Aktenschrankes. Vor diesem Aktenschrank liegt ein riesiger Stapel unbearbeiteter Unterlagen. Dieser
Papierstapel wird immer größer. Ist er zu hoch, fällt er in sich zusammen und das Chaos ist vollkommen. Schlauer wäre es, möglichst bald den Haufen „abzuarbeiten“. Dazu muss jedes einzelne Blatt
noch einmal in die Hand genommen werden. Ich lese es mir durch, lasse es auf mich wirken und überlege in welche Schublade und welchen Ordner es richtig einsortiert gehört. Dieser Prozess klingt
vielleicht stupide und rational. Tatsächlich handelt es sich um einen äußerst kreativen Ablauf. Ich kaue nicht nur wieder, verdaue und verarbeite (gegrüßt sind alle Kühe dieser Welt ;-). Ich
erlebe das Erlebte nicht, wie bei einer Wiederholungsschleife (gegrüßt sind alle Papageien). Vielmehr integriere ich es in ein neues Bild meiner Seelenlandschaft. Täglich spinne ich ein neues
Netz von Zusammenhängen und Verbindungen (gegrüßt sind alle, "spinnenden" und etwas verrückten HSPler). Es entsteht etwas, das vorher noch nicht da war. Gerade in diesen Zeiten kommen mir
Blitzgedanken und Erkenntnisse, entstehen kreative Werke wie Bilder, Geschichten und Gedichte, Projektideen. Hier erlebe ich mich im Flow und tanke meine Energien wieder auf!
E. Aron (Psychologin und Pionierin der Hochsensibilität) nennt diesen Prozess „die tiefe Verarbeitung von Informationen“, welche eines der vier klassischen Erkennungsmerkmale von
Hochsensibilität darstellt.
Küster** nennt neben der schmalen Konfortzone, einer ausgeprägten Wahrnehmungsfähigkeit und eine schnelle Überstimulation auch das "lange Nachhallen" als Kriterium für Hochsensibilität.
Den Staub von der Seele wischen
Wie die Seelenhygiene konkret aussieht, darf und sollte jede hochsensible Person für sich selbst herausfinden. In der pädagogischen Didaktik heißt ein Prinzip „Input braucht Output“. Ein-drücke müssen aus-gedrückt werden. Mir persönlich helfen diese Tätigkeiten, um dem Nachklingen und Verarbeiten Raum zu geben:
· Allein-Zeit / Me-time
· Tagebuch schreiben
· Die Natur auf mich wirken lassen (Wald, Berge, Seen, Flüsse, Wiesen)
· Bewegung: joggen, spazieren, tanzen, wandern
· Kreativ werden: zeichnen, Gedichte schreiben
· Gebet, Meditation, Stille
Ich lade dich ein, deine persönliche Nachklangzeit zu gestalten und deine Seele „aufzuräumen.“ Zehn Minuten täglich sind oft wirksamer als ein „Großputz“, zu dem man sich nicht aufraffen kann! Ein geputztes Haus erstrahlt wieder in seiner Schönheit! Aufgeräumt und geordnet lebt es sich glücklicher!
„Es ist wie mit dem Geheimnis der Klangfarben einer Geige.
Sie sind ein großartiges Gleichnis, was man vielleicht Klangfarben der menschlichen Seele nennen kann... Auch das seelische Leben des Menschen ist von inneren Kräften bestimmt. Spannung und
Bewegung, Erwartung und Erfüllung, Hoffnung und Handlung. Was wir damit verbinden gleich der kinetischen Energie einer Resonanz. Die seelische Resonanz bestimmt in ihren Kräften die
Persönlichkeit des Menschen. Sie bestimmt die Klangfarbe, die wir ausstrahlen.“
(Martin Schleske: Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens. S. 84. 87.)
*SASKIA HEINL in Christina Herr: Mit Feinsinn und Hochgefühl. S. 94.
**vgl.: Schorr Brigitte: Hochsensible im Beruf. Wie empfindsame Menschen leben und arbeiten. S. 47ff.