Einkaufen – diese triviale Alltagstätigkeit betrifft uns alle. Sie sichert unser Überleben. Für hochsensible Menschen stellt sie aber meist eine besondere Herausforderung dar. Bei ihnen zählt der Wocheneinkauf nicht selten zu den unbeliebtesten Haushaltspflichten. Aber warum ist das so? Warum geben wir als Hochsensible diese Aufgabe am liebsten an andere Familienmitglieder ab, während Neurotypische scheinbar zum Vergnügen „shoppen“ gehen? Warum schieben wir den Lebensmitteleinkauf so lange auf, bis nur noch Licht im Kühlschrank ist? Warum reduzieren wir die Anzahl der Einkäufe auf ein notwendiges Minimum?
Um diesen Fragen nachzugehen, lade ich dich auf ein kurzes Gedankenexperiment ein. Hierfür nehme ich dich auf meine imaginäre Einkaufstour mit. Da du als Hochsensible(r) auf allen fünf Sinneskanälen besonders intensiv reagierst, kommen dir folgende Erfahrungen mit Sicherheit nicht übertrieben vor:
Sinnliche Reizüberflutung
Nachdem ich mich schon durch den hektischen Großstadtverkehr geschlängelt und mit Anspannung einen freien Parkplatz ergattert habe, betrete ich den Supermarkt. Eine Welle sinnlicher Reize überflutet mich: Im Hintergrund spielt Musik. Werbespots schallen durch den Lautsprecher. Bereits am Eingang durchzuckt mich das penetrante Piepsen der Kassen im Sekundentakt. Müsste ich als Kassiererin arbeiten, würde ich wohl sehr schnell an Tinnitus leiden. Grelle Neonlichter bestrahlen buntes Obst und Gemüse. Die Aufbackstation kündigt sich durch die Mischung süßlich, deftiger Düfte meterweit im Voraus an. Dann wieder Plastikgeruch von Putzmittel. Warum habe ich meine Überziehjacke im Auto liegen lassen? Ich weiß doch aus Erfahrung, dass ich an der surrenden Kühltheke eine Gänsehaut bekomme. Der Temperaturwechsel gleicht einer unbarmherzigen Wechseldusche. Aber schon fordern wieder leuchtende Werbeanzeigen meine Aufmerksamkeit.
Vergleichen und Auswählen im Überangebot
„Spare ich durch diese Werbeaktionen wirklich Geld oder handelt es sich wieder um eine Schein-Rabattaktion? Wie teuer waren die Tomaten letzte Woche nochmal? Schnell rechne ich den Kilopreis um. Wo kommen die Tomaten her? Was trage ich zum CO2-Abdruck bei, wenn ich die aus Spanien kaufe? Und gibt es auch welche ohne Plastikverpackung? Cocktail-, Strauch-, oder doch lieber Fleischtomaten?“ Während ich den Gemüsestand passiere, schießen mir all diese verkaufsrelevanten Fragen durch den Kopf.
Overthinking, ein typisch hochsensibles Phänomen, schlägt gerade beim Einkaufen voll zu. Hochsensible haben die Gabe, sehr viele Aspekte und Einzelheiten zu überblicken. Dennoch besteht die Gefahr, sich darin zu verlieren. Denn eigentlich wollte man ja nur eine „stink normale“ Tomatensoße kochen, natürlich mit frischen Produkten. Die geschälten aus der Dose mit all den Konservierungs- und Zusatzstoffen würden dem Körper ohnehin nicht sonderlich guttun.
Und wenn ich dann doch mal „sündige“, weil ich meine Lieblingsschokolade einpacke, muss sie zumindest das Fair-Trade-Siegel tragen. Kinderarbeit und ausbeuterische Löhne möchte ich nicht unterstützen. Kaum habe ich die Gemüsetheke hinter mir, muss ich an der Kühltheke entscheiden: „Kaufe ich diesmal die teuersten Eier aus Haltungsform 0 oder doch A? Dann müsste ich aber bei der Wurst einsparen. So lasse ich sie diesmal lieber ganz weg (mein Ideal wäre sowieso ein vegetarischer Haushalt), wenn auch meine Kinder sie lieben.“
Der ethische, ökologische und soziale Anspruch, den Hochsensible internalisiert haben, kommt gerade beim Einkaufen voll zum Vorschein. Hochsensible wollen Verantwortung übernehmen für eine bessere, menschen- und tierfreundlichere Welt, für eine gerechtere Gesellschaft. Können sie dieser (Über-)Verantwortung (z.B. aus finanziellen Gründen) nicht gerecht werden, plagt sie das schlechte Gewissen. Hinzu kommen die unzählbaren Auswahlmöglichkeiten. Innerhalb weniger Minuten müssen wir beim Einkaufen hunderte von Entscheidungen treffen. Hochsensible, die bekanntlich oft entscheidungsunsicherer sind als normale Menschen, versetzt dies in unglaublichen Stress.
Emotionale Schwämme
Zudem saugen Hochsensible soziale Informationen wie ein Schwamm auf. All das, was andere Kunden oder Angestellte an „Energien“ ausstrahlen, nehmen sie besonders intensiv wahr. Hochsensiblen entgeht nicht, wenn sich die Mitarbeiter vor Feierabendschluss auf das Wochenende freuen. Sie spüren den Stress und die Hektik, wenn Menschen vor den Feiertagen panisch in die Geschäfte laufen, da sie scheinbar Angst haben zu verhungern. Telefoniert eine Mutter noch angespannt mit einem Familienmitglied, weil die Entscheidung über das Mittagessen jetzt gefällt werden muss? Hochsensible nehmen ihre genervte Stimmung war. Gleichzeitig regt sich in ihnen Mitleid, da sie neben sich ein trotzendes Kind beruhigen muss, das die Süßigkeitenpackung jetzt auf der Stelle haben will. An der Kasse vordrängeln, das geht für Hochsensible gar nicht, auch wenn die betreffende Person nur zwei, drei Sachen einkauft. Aber wenn diese es so eilig hat, dann lässt eine hochsensible Person sie auch mal nach vorne. Die Leute sollten nur den natürlichen Sicherheitsabstand einhalten, so denken Hochsensible. Sie können nicht verstehen, wie manche Menschen dafür scheinbar kein Gespür mitbringen.
Und dann endlich…, nach dem hektischen Einpacken der Einkäufe, weil die Kassiererin doppelt so schnell hantiert wie ein Roboter und im Sekundenakkord die Ware abscannt, dann endlich raus in die ersehnte Frischluft. Tief durchatmen!!!! Das nächste Mal probiere ich die Scann-Station aus, denke ich mir und hieve den vollen Korb ins Auto. Eine Last fällt ab, denn überreizt von all den Eindrücken freue ich mich auf mein gemütliches Zuhause. Ein typischer Einkaufstag neigt sich dem Ende. Ich danke dir für dein gedankliches Geleit!
Handlungstipps
Um das Einkaufen etwas entspannter als oben beschrieben zu gestalten, möchte ich im Folgenden ein paar praktische Tipps auflisten. Diese haben sich für mich als hochsensible Persönlichkeit bewährt. Bestimmt gibt es noch mehr davon und mit Sicherheit sind nicht alle Punkte für jeden geeignet. Wähle einfach die passenden Inspirationen für dich aus.
- Erkundige dich, ob es eine s.g. „Stille Stunde“ in deinen primären Einkaufslokalitäten gibt oder schlage diese vor. Das Pilotprojekt „Stille Stunde“ wird mittlerweile in immer mehr Städten und von immer mehr Geschäften umgesetzt. Ursprünglich wurde sie für autistische Menschen ins Leben gerufen. Diese sollten einmal am Tag die Möglichkeit erhalten, bei gedämpftem Licht, ausgeschaltetem Radio und ohne große Reizüberflutung einzukaufen. Dieses Angebot fand so großen Anklang, dass nicht nur Autisten, sondern auch Hochsensible, Menschen mit AD(H)S und selbst Neurotypische dies als eine besonders wertvolle Zeit erlebten. Ich persönlich wünsche mir, dass die „Stille Stunde“ an jedem Ort und in jedem Geschäft zur Selbstverständlichkeit wird. Bis dahin versuche ich, wenn möglich, an Tagen (Montag, nicht Fr oder Sa) oder Zeiten (vormittags) einzukaufen, an denen bekanntlich weniger Betrieb herrscht.
- Bewege dich in deinem eigenen Tempo durchs Geschäft. Lass dich nicht hetzen und nicht ablenken. Bleibe bei dir. Bleib bei deiner Einkaufsliste. Das spart Zeit und Geld!
- Gehe möglichst ohne Begleitung (und ohne Kinder) zum Einkaufen. Ansonsten musst du gut ausbalancieren zwischen deinen eigenen Bedürfnissen und der Rücksichtnahme gegenüber deiner Begleitperson(en).
- Wenn du merkst, dass dein Stresspegel durch die Außenreize steigt, konzentriere dich aktiv auf dich selbst. Spüre deine Atmung, knete deine Hand, summe dein Lieblingslied, benutze Noise-Cancelling-Kopfhörer, egal was andere Leute darüber denken.
- Begegne den Menschen um dich herum mit einem Lächeln. Hebe der alten Dame die runtergefallene Packung auf. Gib der Kassiererin ein extra Trinkgeld. „Jeden Tag eine kleine Tat“, so bringst du deine positive und liebevolle „Energie“ in die Welt. Du wirst sehen, dass du ein Lächeln zurückbekommst.
- Vielleicht hast du eine Möglichkeit, Gemüse und Obst selbst im Garten anzubauen. Dies garantiert dir Bioprodukte von bester Qualität, v.a. aber eine besondere Wertschätzung gegenüber liebevoll gehegten Pflanzen und Früchten. Auch bei wenig Platz kannst du Kräuter und Salate in Töpfen z.B. auf dem Balkon anbauen. Sollte dir dies aber aus örtlichen und zeitlichen Umständen nicht möglich sein, nutze z.B. die regionale Obst-/Gemüsekistenzustellung oder kaufen beim Biobauern in der Nähe ein. So unterstützt du regionale Kleinunternehmen und schonst die Umwelt.
- Vielleicht hast du einen nicht-hochsensiblen Partner oder ein anderes Familienmitglied, das gerne Einkaufen geht. Bitte es, die Einkäufe für dich zu erledigen. Biete im Gegenzug dafür eine Ersatzaufgabe an, die du mit mehr Ruhe zu Hause übernehmen kannst z.B. Putzen, Wäsche waschen/einräumen, Schreibkram erledigen.
- Denke aber auch daran, dass jede gemeisterte Herausforderung deine Komfortzone erweitert und dich innerlich wachsen lässt! Verfalle nicht in absolutes Vermeidungsverhalten. Ansonsten könnte dies zur Abhängigkeit in Beziehungen führen und zu einem Gefühl der Unfähigkeit, was deinem Selbstwert schadet.
- Falls du niemanden hast, an den du den Einkauf delegieren kannst, überlege dir, ob bei ausgewählten Produkten auch eine Onlinebestellung sinnvoll ist. So entkommst du überfüllten Geschäften. Andererseits wird durch die bequeme Lieferung nach Hause, die Umwelt belastet. Besonders bei Onlineriesen wie Amazon sollten Arbeitsbedingungen, Billigware und Transportwege mitbedacht werden. Hier bedarf es, wie beim Einkauf vor Ort, ein gutes Abwägen verschiedener Komponenten.
- Gute Vorplanung, z.B. durch eine Einkaufs-App (in welcher die Grundbedarfsmittel nur an- und ausgeklickt werden müssen und in der Reihenfolge aufgelistet sind, wie du sie auch im Laden vorfindest), verkürzt die Zeit im Geschäft. Hier können Hochsensible ihr Organisationstalent zeigen und gewissenhaft anklicken, wenn sich zu Hause ein Produkt dem Ende neigt. Wenn nichts vergessen wird und immer etwas Vorrat zu Hause ist, kann die Anzahl der Einkäufe auf das Nötigste reduziert werden. Ein großer Wocheneinkauf ist wohl besser handelbar, als sich jeden zweiten Tag in das Getümmel zu stürzen.
- Plane vor und nach der Einkaufszeit ruhige Phasen ein. Belohne dich selbst mit einem leckeren „Mitbringsel“.
Eine kostenlose Einkaufs-Ermutigung am Schluss:
In vielen Fällen, wie auch beim Thema „Einkauf,“ ermutigt mich das wohlbekannte Zitat von Reinhold Niebuhr: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann und den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“